Von Dr. Anke Rees
Die Haltestelle „Groß Flottbek-Othmarschen“ wurde an der Bahnstrecke zwischen Altona und Blankenese 1882 nachträglich eingerichtet – zunächst als Provisorium, an dem nur zehn Bahnen pro Tag hielten. 1892 wurde beschlossen, die Verbindung zweigleisig auszubauen, um den wachsenden Anforderungen an den Nahverkehr gerecht zu werden. Die Königliche Eisenbahndirektion Altona ließ daraufhin einen Bahnhof südlich der neuen Villenkolonie anlegen. Er bestand aus einem Bahnhofsgebäude und einem überdachten Bahnsteig auf einem Damm. Unter der Überdachung befanden sich auch drei Häuschen für das Stellwerk, die Abfertigungsbeamten und eine Bahnhofskneipe. Die Dachkonstruktion von 1896 mit ihren vier hölzernen Stützreihen ist nahezu im Original erhalten und steht, ebenso wie zwei Häuschen, unter Denkmalschutz.
Seit 1867 verkehrten Züge zwischen Altona und Blankenese. Das Gebiet war ländlich. Die Bahn bummelte eingleisig durch Wiesen und Felder. Mit der beginnenden Bebauung des Gebiets wurden Zwischenhaltestellen eingerichtet. Die ersten waren Bahrenfeld und Flottbek, Othmarschen folgte 1882. Die Station bestand aus einem kleinen Holzhaus und befand sich 200 Meter westlich des heutigen Bahnhofs. Das Land gehörte einem „Terrain-Consortium“, dessen Begründer der Kaufmann Johann Benjamin Burchard war. Aufgrund seiner Erfahrung im Wegbau-Verein der Elbchaussee konnte er einschätzen, welchen Wert Bauland in diesem Gebiet in naher Zukunft haben würde. So begann er 1882, Flächen beiderseits der Bahnstrecke aufzukaufen. Er tat sich mit Ferdinand Ancker, einem Ziegelei-Besitzer, und 16 weiteren Männern zusammen, um Ländereien im Bereich Bahrenfeld, Othmarschen und Groß Flottbek zu erwerben. Ihr Ziel war es, diese Flächen „für gemeinschaftliche Rechnung zu verwerthen“, wie es im Gesellschaftervertrag von 1893 hieß. Heute würde man die Männer als Immobilien-Spekulanten bezeichnen.
Die Unternehmer hatten die Zeichen der Zeit erkannt: Nach dem Cholerajahr 1892 wollten wohlhabende Hamburger gern raus aus der Stadt, aber ohne dabei auf deren Annehmlichkeiten verzichten zu müssen. Durch die Entwicklung der Elbgemeinden ließen sich diese Wünsche erfüllen. Die Haltestelle Othmarschen spielte dabei eine entscheidende Rolle: Erst mit dem Anschluss an die Strecke, die eine durchgehende Verbindung nach Altona und zum geplanten Hamburger Zentralbahnhof versprach, wurde das Gebiet im Umkreis der Station für Hamburger und Altonaer Bürger als Wohngebiet attraktiv. Daher stellte das „Terrain-Consortium“ der Königlichen Eisenbahndirektion Altona das Land, auf dem die provisorische Haltestelle eingerichtet werden sollte, kostenlos zur Verfügung und gab 3.000 Mark für die Bahnstation dazu. Außerdem verpflichtete es sich, die Gegend um die Station innerhalb eines Jahres zu bebauen. Dies war die Geburtsstunde des Villenviertels Othmarschen.
Die ersten Villen entstanden beiderseits der Hammerichstraße, zwischen dem Bahnhofsgelände und der Jungmannstraße (früher Bahnhofsstraße). Sie und die zahlreichen später erbauten Häuser waren überwiegend in einem dekorativen Landhausstil gehalten und befriedigten die Vorlieben ihrer reichen Käuferschaft: Das gehobene Bürgertum mochte Neoromantisches – einen Stil mit Türmchen, Erkern und Fachwerkelementen. Das Viertel wurde unter dem Namen „Villenanlage Neu-Othmarschen“ innerhalb kurzer Zeit bekannt. Es galt als Vorbild für Gartenstädte, freilich nur für Wohlhabende.
Die Grundstücke, auf denen die repräsentativen Häuser errichtet wurden, waren großzügig bemessen. Der vorhandene Eichenbestand war in die Planungen einbezogen worden, ebenso wie der Kauf von 30.000 Bäumen und Sträuchern zur Gestaltung der Alleen, Promenaden und Gärten. Dadurch entstand der Eindruck einer bebauten Parkanlage. Die Straßennamen – zum Beispiel Parkstraße, Grottenstraße, Eichenallee und Ulmenstraße – zeugen noch heute von diesem Konzept. Durch strenge Klauseln in den Kaufverträgen wurde dafür gesorgt, dass der Villen- und Parkcharakter des Viertels erhalten blieb. Die Villenkolonie sollte jedoch nicht nur ansprechend aussehen, sondern auch modern und komfortabel sein. So wurden von Anfang an die Wasser- und die Abwasserversorgung mitgeplant, Rohrsysteme verlegt und an das Hauptrohr bzw. die neue Sielanlage der Stadt Altona angeschlossen – eine für damalige Verhältnisse fortschrittliche Vorgehensweise. Besonders gelobt wurde die Straßenbeleuchtung. Dafür hatte das „Terrain-Consortium“ ein eigenes Elektrizitätswerk bauen lassen, das ab 1895 das Viertel versorgte.
In einer der Villen, in der Grottenstraße 9, lebten nach Ende des Zweiten Weltkrieges die Schwestern Erna Goldschmidt und Käthe Goldschmidt-Starke. Ihnen ist aufgrund ihres schweren Schicksals ein Stolperstein gewidmet. 1902 und 1905 geboren, wuchsen sie in einer jüdischen Bankiersfamilie in Altona auf. Nach der Ausbildung arbeitete Erna im Unternehmen des Vaters, Iska Goldschmidt. Käthe hatte vor, nach dem Studium in Heidelberg und München die Theaterlaufbahn einzuschlagen. 1935 bekam sie ein Kind von ihrem jüdischen Freund Martin Starke. Um den unehelichen Sohn nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten zu schützen, ließ sie ihn – getarnt als „arisches“ Waisenkind – in der Obhut des Blauen Kreuzes in München zurück und ging wieder nach Hamburg.
Nach dem Tod des Vaters führten die Töchter die Bank gemeinsam mit ihrer Mutter Helga. Doch die Nationalsozialisten zwangen die Familie zuerst zur Judenvermögensabgabe und dann zur Liquidation der Bank. Sie musste alle persönlichen Wertgegenstände abgeben. Schließlich sperrte man ihre Konten und nötige sie zum Umzug in „jüdische Häuser“. 1943 wurden die Schwestern nach Theresienstadt deportiert. Sie überlebten die Zeit im Ghetto und kamen nach der Befreiung nach Hamburg zurück. Erna Goldschmidt setzte sich für den Wideraufbau der Jüdischen Gemeinde ein, arbeitete für die „Jewish Trust Cooperation for Germany“ und half ehrenamtlich in nicht-jüdischen Organisationen. Käthe Goldschmidt holte 1947 ihren Sohn Piet aus München zu sich und promovierte ein Jahr später als Theaterwissenschaftlerin. Sie heiratete Martin Starke, den Vater ihres Kindes, der das Konzentrationslager Auschwitz überlebt hatte. Erna starb 1977, ihre Schwester 1990.
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