Von Birgit Gewehr, Dr. Anke Rees,
Frauke Steinhäuser und
Hannimari Jokinen
Der eigentliche Dorfkern von Othmarschen war zwischen zwei großen Teichen gelegen. Das 1317 erstmals urkundlich erwähnte Othmarschen gehörte über die Vogtei Ottensen zur Grafschaft Pinneberg. 1640 fiel die Grafschaft an den dänischen König Christian IV. Als Dänemark 1848 die Einverleibung des Landesteils Schleswig betrieb, erhoben sich die Schleswig-Holsteiner gegen die dänische Herrschaft. Das Denkmal unter der Doppeleiche mit den Wappen der beiden Herzogtümer Schleswig und Holstein – gestiftet zur 50. Jahresfeier 1898 von Othmarscher Frauen – erinnert an diese Erhebung unter der Parole „Schleswig-Holstein – up ewig ungedeelt“, für immer ungeteilt. Schließlich kam Othmarschen 1867 nach der Vertreibung der Dänen im deutsch-dänischen Krieg zur preußischen Provinz Schleswig-Holstein.
Othmarschen war ein sehr wasserreiches Gebiet mit drei großen Bächen – der Flottbek, der Teufelsbek und der Röbbek. Der Name Othmarschen deutet in seinem Ursprung wahrscheinlich auf den vorwiegend feuchten Marschboden, in dem sich viele Tümpel und Teiche bildeten. Der Teich am Hirtenweg, der größte und bekannteste Teich mitten im Dorf, war Ausflugsort im Sommer und Eisbahn im Winter und wurde von der Bevölkerung für viele Freizeitaktivitäten genutzt. Er fiel in den 1970er Jahren dem Autobahnbau zum Opfer. Der gegenüber an der Ziethenstraße gelegene Teich ist heute verschilft und verlandet allmählich. Die heutige Ansorgestraße, früher Ziethenstraße, war eine Einkaufsstraße mit Läden und Handwerksbetrieben.
Im Mittelalter bestand Othmarschen aus wenigen Bauernhöfen in einer dicht bewaldeten Gegend.
Über Jahrhunderte war die vor allem auf Selbstversorgung angelegte Landwirtschaft der Haupterwerbszweig. Zwischen 1580 und 1730 blieb die Zahl der Höfe und Häuser konstant. Doch schon im 17. Jahrhundert änderte sich die Situation und es gab nichtbäuerliche Hofbesitzer. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren bereits von den sieben Vollhöfen in Othmarschen einer und von den vier „Halbhufen“ drei veräußert worden. Langsam hatte auch ein Verkauf von Ackerflächen eingesetzt. Vielfach wurden ehemalige Höfe in Landsitze für wohlhabende Altonaer und Hamburger Familien umgewandelt, die sich entweder auf dem Land zeitweise erholen oder ins Grüne umziehen wollten.
1890 wurde Othmarschen in die selbstständige Stadt Altona eingemeindet. Obwohl in anderen Teilen Altonas schon elektrisch betriebene Straßenbahnen verkehrten, fuhr über die Elbchaussee bis zur Endhaltestelle „Am Teich“ – gemeint ist der Teich am Hirtenweg – bis 1908 nur eine Pferdebahn. Othmarschen galt als ein besonderer und idyllischer Stadtteil. Gustav 0elsner, damals Bausenator von Altona, beschrieb 1924 in der Vossischen Zeitung die Gegend: „Parks mit stillen Häusern hinter mächtigen Büschen von Rhododendren und Azaleen, Kuhweiden, Alleen, Besitzungen von fürstlichem Ausmaß. Im Kern das alte Othmarschen mit Bauernhöfen in der großen stolzen Form, wie wir sie von Friesland und Sylt her kennen. Durch Othmarschen hindurch hoch über der Elbe die Flottbeker Chaussee (seit 1951 Elbchaussee), die Liliencron die schönste Straße der Welt genannt hat.“
An der Ecke Margarethenstraße/Ziethenstraße (heute Emkendorfstraße/Ansorgestraße) verzeichnet das Adressbuch Altona von 1909 bis 1921 das Café der Witwe Dierks. Es gehörte zu den zahlreichen Ausflugslokalen, die es in den Elbvororten gab und die gern von der Altonaer und Hamburger Bevölkerung besucht wurden. Gegenüber dem Café befand sich ein Laden für „Colonial- und Holländische Waren“. Dort wurden Lebens- und Genussmittel wie Zucker, Kaffee, Tabak, Reis, Kakao, Gewürze und Tee verkauft. Solche Produkte galten als etwas Edles, weil sie aus den überseeischen Kolonien nach Hamburg importiert wurden. Für ihren Anbau, ihre Ernte, die Herstellung und Verarbeitung wurden in jener Zeit in Afrika jedoch versklavte Menschen eingesetzt. Gegenüber dem Kolonialwarengeschäft gab es einen Kiosk. Er wurde Anfang der 1950er Jahre als Wasserstation mit einem Wetterhahn eingerichtet. Heute steht er unter Denkmalschutz.
Die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eingeleitete Umwandlung Othmarschens von einem Bauerndorf zu einem Villenvorort von Altona, und später auch von Hamburg, setzte sich weiter fort. Der historische Dorfkern von Othmarschen, der sich bis in die Gegend um den heutigen Agathe-Lasch-Weg erstreckte, war noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts intakt. Nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch gab es nur noch zwei landwirtschaftliche Betriebe, deren Landbesitztümer durch die baulichen Entwicklungen des Umfeldes zu klein für eine rentable Bewirtschaftung geworden waren. Anfang der 1970er Jahre musste der bäuerliche Dorfkern schließlich dem Bau der Autobahn A7 und dem des 2,6 Kilometer langen Elbtunnels weichen. Seitdem ist der Stadtteil in zwei Teile zerschnitten.
Hinter einer etwa 200 Jahre alten Eibe im ehemaligen Dorfkern steht eine gemauerte Pyramide mit einem Sockel aus Naturstein, errichtet 1923. Darauf befindet sich ein Stahlhelm-Relief, das von einem Strahlenkranz umgeben ist. Die Inschrift lautet: „Die Einwohner Othmarschens ihren Gefallenen zum Gedächtnis.“ Unter der Überschrift „Es starben für das Vaterland“ wurden 87 Namen von Othmarschern in Stein gemeißelt, die im Ersten Weltkrieg ums Leben gekommen waren. 1963 wurde die Auflistung vom Bürgerverein Flottbek-Othmarschen um die Namen weiterer Toter des Zweiten Weltkriegs ergänzt. Interessengruppen und Vereine legen hier am Volkstrauertag einen Kranz nieder, um an die, wie es der Bundespräsident formuliert, „Kriegstoten und Opfer der Gewaltherrschaft aller Nationen“ zu erinnern. Das Ritual ist umstritten, denn in Anbetracht der seit dem Ersten Weltkrieg stattfindenden Kriege und der Verbrechen der Nationalsozialisten ist es bedenklich, Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft in einem Satz zu nennen. Der Historiker Reinhart Koselleck brachte es 1989 auf den Punkt: „Die Frage, wer hier wen – oder sich – für was geopfert hat oder wer hier warum für wen geopfert worden sei, bleibt unbeantwortet.“
Auch Siegfried Lenz, geboren 1926, wurde als 17jähriger zur Marine eingezogen. Er desertierte jedoch von einem Kriegsschiff in Dänemark. Vierzig Jahre lang lebte er in Othmarschen, in der nahegelegenen Preußerstraße. Über den Namensgeber der Straße, L. T. Preußer, einen Unteroffizier während des deutsch-dänischen Krieges, schrieb er: „Ich meine, der Mann, der ihr seinen Namen verliehen hat, hätte eine belebtere Straße verdient, eine längere in jedem Fall. Die Tat seines Lebens bestand darin, von einem brennenden dänischen Kriegsschiff verwundete Seesoldaten zu bergen, 1849 vor Eckernförde. Bei der Explosion des Schiffes kam er ums Leben. Diese Straße ist tatsächlich viel bescheidener als die Straßen der Nachbarschaft, denen ein Waldersee, ein Jungmann, ein Reventlow den Namen gaben. Aber die waren Marschälle, hochgestellte Dreinschläger, oder sie hatten Zugang bei Hofe.“
In unmittelbarer Nähe liegt eine dieser Straßen, die Siegfried Lenz meinte: Sie ist benannt nach Alfred Graf von Waldersee (1832-1904), dem Generalstabschef der kaiserlichen Armee, der für sieben Jahre nach Altona versetzt worden war. In dieser Zeit verlangte er – allerdings vergeblich – von Kaiser Wilhelm II., gegen die Sozialdemokratie vorzugehen, weil er sie als „die größte Gefahr im Kaiserreich“ betrachtete. 1900 schickte dieser den als nationalkonservativ und antisemitisch bekannten Marschall als Oberbefehlshaber der europäischen Truppen zur Niederschlagung des sogenannten Boxerkrieges nach China. Zwei Jahre zuvor hatten die Deutschen auf der Halbinsel Jiāozhōu (Kiautschou) aus wirtschaftlichen Gründen eine Kolonie errichtet. Die Besetzung wurde begleitet von der Propaganda, die chinesische Bevölkerung „zivilisieren“ zu wollen. Die Verbände der Yihetuan, die aufgrund ihres Faustkampfstils von den Kolonialmächten spöttisch als „Boxer“ bezeichnet wurden, leisteten dagegen Widerstand.
Als Waldersee mit seinen Truppen in China eintraf, war der Krieg jedoch schon vorbei. Die im Pazifik versammelten Truppen, vor allem die Japans und der USA, hatten Beijing (Peking) unter ihre Kontrolle gebracht, das Riesenreich und mit ihm die Yihetuan besiegt. Daraufhin zog der General seine Armeen jedoch nicht zurück, sondern befahl „blutige Vergeltung“. Rund 17.000 seiner Soldaten plünderten Beijing und andere Städte. Sie zerstörten Kulturschätze oder stahlen sie. Sie überfielen Dörfer und setzen sie in Brand. Sie vergewaltigten, folterten und exekutierten Zivilisten. Zehntausende Menschen wurden getötet. Ein Soldat schreibt in seiner Feldpost: „Alles, was uns in den Weg kam, ob Mann, Frau oder Kind, wurde abgeschlachtet.“ Sie bezogen sich dabei auf die sogenannte „Hunnenrede“ des Kaisers, der die Parole ausgegeben hatte: „Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht!“
Der Mann, der internationales Völkerrecht ignoriert und Kriegsverbrechen begangen hatte, kehrte als gefeierter Held ins Deutsche Reich zurück – obwohl schon prominente Zeitgenossen wie die Nobelpreisträgerin Bertha von Suttner, der Sozialdemokrat August Bebel und der Schriftsteller Mark Twain den Rachefeldzug Waldersees kritisiert hatten. Trotzdem machten ihn die Städte Altona und Hamburg 1903 zum Ehrenbürger, der er noch heute ist. Im selben Jahr wurde auch die Walderseestraße angelegt, deren Grünanlage in der Mitte das ehemalige Flussbett der Teufelsbek markiert, die die Grenze zwischen den Gemeinden Othmarschen und Bahrenfeld bildete. Inzwischen wird über die Aberkennung der Ehrenbürgerschaften und die Umbenennung der Straße diskutiert, was vor allem dem Arbeitskreis „Hamburg Postkolonial“ und der Initiative „freedom roads!“ zu verdanken ist. Es gibt zwei Vorschläge, wer stattdessen mit einem Straßennahmen geehrt werden könnte: die chinesische Feministin, Dichterin und Kritikerin der europäischen Invasion Qiu Jin (1875-1907) oder Chong Tin Lam (1907-1983), der aus dem vom Krieg zerrütteten, verarmten China nach Hamburg emigrierte und hier Opfer der Gestapo wurde.
Entdecke die Geschichte Ottensens auf den 11 Informationstafeln rund um den Altonaer Bahnhof.
Das Stadtteilarchiv Ottensen ist Forschungsstelle, Geschichtswerkstatt und Archiv zur Geschichte und Gegenwart von Altona und Ottensen in Hamburg.